Thomas Leon Heck

nachdem gestern das gleiche, möglicherweise dasselbe, hölderlin-porträt hereinkam, also evtl. das mir unterschlagene hecksemplar, erzähle ich nochmals, wie ich vor 40 Jahren einen diebischen Lehrer um seinen Beamtenstatus brachte

Schon im Jahr nach Eröffnung meines ersten Ladens, also 1985, ereignete sich mein bislang spektakulärster Fall. Ein ortsansässiger Gymnasiallehrer war in allen Tübinger Antiquariaten bestens bekannt. Das erste Problem, das ich mit ihm hatte, ergab sich auf meiner Kunst- und Antiquitätenversteigerung vom 14. Mai 1983:
Er hatte nur eine von zwei Graphiken ersteigert, beim Bezahlen war ihm aber versehentlich das Gegenstück, 1 hölderlin-porträt, auch ausgehändigt worden. Dies kam heraus, weil das Pendant auch verkauft worden war und der Käufer es deshalb auch in Empfang nehmen wollte. Die Suche nach seiner Graphik blieb aber erfolglos. Die Rekonstruktion des Vorganges ergab als einzige Möglichkeit, dass der Lehrer durch einen Irrtum meines Mitarbeiters in den Besitz der vermißten Graphik gelangt war. Zu zweit suchten wir ihn in seinem Haus auf. Auf unsere Vorhaltungen hin schlug er uns die Tür vor der Nase zu. Am nächsten Tag, so erfuhr ich vom Rechtsanwalt B., beschwerte sich der Lehrer beim Antiquar Frick, mit welch unseriösen Methoden ich versuchte, zu Geld zu kommen -- eine nicht gerade das geschäftliche Ansehen fördernde Aussage...
Als in meinem Laden wieder einmal ein teures Buch fehlte und ich mir überlegte, wer verdächtig sein konnte, kam mir in den Sinn, dass der Verfasser des gestohlenen Buches, nennen wir ihn Schiller, jedenfalls ein deutscher Klassiker, derselbe war, der auch der Straße seinen Namen gegeben hatte, in der der Lehrer wohnte -- nennen wir sie folglich Schillerstraße (deutlicher darf ich hier nicht werden, der Arme hätte ja womöglich den Volkszorn zu fürchten). Die Annahme eines Zusammenhangs zwischen dem Buch von Schiller und der Schillerstraße war jedoch ganz irrational. Dennoch bildete sich so bei mir ein Anfangsverdacht, der durch folgende Begebenheit zur Gewißheit wurde.
Bei einem Besuch in einem anderen Antiquariat nahm ich ein Buch von Theodor Häring mit dem Titel „Das Christliche Leben“ in die Hand. Dabei fiel mir der Besitzereintrag eines Pfarrers auf, den ich ausgerechnet als „Sauberschwanz“ las. (Tatsächlich hieß der fromme Mann Sauberschwarz, wie ich feststellen konnte, als ich das Buch nach meinem famosen Blattschuss als Trophäe erwarb, da ich den Skalp oder das Geweih des Lehrers nicht erlangen konnte.)
Am nächsten Tag brachte der bildungsbesessene Pädagoge (übrigens ein kluger Kopf, Linksintellektueller, schreibt auch hin und wieder mal über Klassenkampf und so) eben dieses Exemplar in meinen Laden und bot es mir zum Kauf an. Ich stellte -- noch immer ahnungslos -- die Frage, ob dies das Buch sei, das ich gestern noch bei der Konkurrenz gesehen hatte. Er leugnete, wobei er errötete.
Erst Monate später, als abermals ein Buch nach einem Besuch des Lehrers fehlte, wurde mir im Zuge angestrengtester Überlegungen eines klar: Er mußte ein Dieb sein. Ich zeigte ihn also bei der Polizei an und gab die Titel von sechs Büchern an, die ich vermißte. Es dauerte Wochen, bis der Staatsanwalt eine Haussuchung genehmigte. Es war dabei abzuwägen, ob das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung wegen der Aussage eines einzigen Zeugen außer Kraft gesetzt werden konnte. Maßgebend für meine Glaubwürdigkeit dürfte wohl gewesen sein, dass ich den Kollegen, von dem das Häring-Buch stammte, gefragt hatte, ob der Verdächtigte es bei ihm gekauft haben könnte. Der Händler verneinte dies entschieden, denn der Lehrer habe bei ihm noch nie etwas gekauft.
Kommissar Häussler, sowie ein weiterer Polizist und ich starteten dann bei Nacht und Nebel die Haussuchung. Im Wohnzimmer des Lehrers sah ich in einer sehr wertvollen Bibliothek schon aus der Ferne einzelne meiner Bücher stehen. Der Kommissar ging mit dem Lehrer in ein Nebenzimmer. Wie er es geschafft hat, den Täter zu einem Geständnis zu bewegen, bewundere ich noch heute als Meisterleistung polizeilicher Taktik, denn völlig überrumpelt gestand dieser nicht nur mehr Diebstähle in meinem Geschäft, als ich angezeigt hatte (so erhielt ich statt der sechs vermißten Titel fünfzehn zurück!), auch wurden Bücher und Graphik für ungefähr 25 000 DM sichergestellt. Wie dreist der Mann war, zeigte sich, als er wieder eintrat und mich sofort aufforderte, meine Anzeige zurückzuziehen. Ich sagte knallhart: „Sie haben hier gar nichts zu fordern. Jetzt will ich erst mal meine Bücher zurück!“ Ich meinerseits war dann so taktlos, dem Überführten ausgerechnet in dieser Situation mein Kaufinteresse an seiner gesamten Bibliothek zu signalisieren -- hätte ja sein können, dass er demnächst Geld braucht...
Übrigens vergaß ich bei dieser Gelegenheit nicht, nach dem bei der oben erwähnten Auktion verschwundenen hölderlin-porträt zu fragen. Er präsentierte sie mir -- trotz allem noch immer hartnäckig lügend -- mit der Behauptung, dass dies das von ihm rechtmäßig erworbene Blatt sei. Zu seinem Pech stand aber noch immer die Bieternummer des anderen Käufers darauf, weshalb eine Verwechslung ausgeschlossen war. So hatte sich nach Jahren mein Verdacht doch noch bestätigt...
Und hier eine allerletzte Dreistigkeit: Als wir bereits die Wohnung verlassen wollten, entdeckte ich an der Wand ein Porträt Hölderlins, das mir der Lehrer ebenfalls gestohlen hatte. Als ich sagte, dass dies meins sei, bekam ich prompt zur Antwort: „Aber der Rahmen gehört mir!“ Mein Lustgewinn bei der Haussuchung war jedenfalls erheblich -- so etwas ist wirklich spannender als jeder Krimi, und vor allem realistischer.
Nach all dem Aufwand hatte ich ja nun lediglich die Sachen zurück, die mir eh gehörten. Die Polizei bestand aber darauf, dass ich auch weitere wertvolle Bücher annähme, die laut dem Täter von mir seien, was ich aber bestritt.
Wenige Tage später stand zum Ärger des ermittelnden Staatsanwalts in der BILD-Zeitung die Schlagzeile „Herr Oberstudienrat klaute ganze Bibliothek“. Denn natürlich hatte ich in jener Nacht nicht einschlafen können. Ich reagierte mich also ab, indem ich ganz anonym (!) bei BILD anrief und zunächst nur einfach einmal wissen wollte, ob eine solche Story überhaupt journalistisch interessant sei. Als ich tags darauf nochmals anrief, bekam ich zu hören, wenn ich die Fakten nicht auf den Tisch legte, käme eine Horde von Journalisten nach Tübingen, und die Namen der Beteiligten werde man so sehr rasch herausfinden. Ich hatte unter diesen Umständen kaum mehr eine Wahl und plauderte daher in einer unentschlüsselbaren Motivmischung alles aus; als Zeuge war ich ja (im Gegensatz zur Polizei) nicht zur Verschwiegenheit verpflichtet. Nach dem BILD-Bericht erschien auch ein Kommentar zu dem ganzen Vorgang im Schwäbischen Tagblatt, wo ich die Story nicht angeboten hatte. Und zuletzt brachte die Enkelin des oben erwähnten Theodor Häring in einem Leserbrief die Sache auf den Punkt: Es komme „alles auf den kleinen Unterschied [...] zwischen Sein und Haben“ an, „zwischen dem Belesen-SEIN und: geklaute Lessings-HABEN!“
Wenn die Leserbriefschreiberin jedoch an gleicher Stelle von einem „Antiquar-Krimi-Schwank“ spricht, so drückt sie damit aus, wie derartige Geschichten meist empfunden werden, nämlich als Mischung zwischen Moritat und Komödienstadel. Sie verkennt aber, dass für die Geschädigten einer Straftat oder eines Verbrechens der seelische Schaden schwerwiegender als der materielle oder rein körperliche sein kann. (So habe ich damals noch im Zusammenhang mit dieser Affäre dem Tagblatt gesagt: „Die Bücher sind nach den Menschen meine größte Leidenschaft.“ Aufgrund der Vorfälle, die ich aber zwischenzeitlich mit Menschen der verschiedensten Altersgruppen und sozialen Schichten quer durchs Strafgesetzbuch erlebt habe, sah ich schon nach nur wenigen Jahren dies alles in einem anderen Licht.)
In der Nacht nach dem BILD-Artikel, also am 26.2.1985, läutete mein Telefon, das neben meinem Bett stand. Als ich abnahm, wurde aufgelegt. Meine Schlussfolgerung war, dass sich der Lehrer nun an mir rächen wollte durch Telefonterror. Es war aber der 1. Anruf meiner späteren Frau, die erschrocken über mein plötzliches Abnehmen aufgelegt hatte. Wir hatten uns Wochen zuvor auf der Rottenburger Fasnet kennengelernt. Unter diesen drastischen Umständen also erfolgte ihre erste Reaktion seitdem!
Zurück zum Strafverfahren: Da der „vorbildliche“ Pädagoge in vollem Umfang geständig war, wurde ich nicht als Zeuge zur Verhandlung geladen und versäumte dadurch, was ich noch heute bedaure, den Prozesstermin. Ich war vor allem gespannt, ob der Täter auf geisteskrank („Kleptomanie“) machen würde, um mildernde Umstände zu erhalten. Dadurch hätte er aber natürlich seine Stellung riskiert. Ich erfuhr dies aber nie, sondern nur das Urteil des Amtsrichters Stein: 7 000 DM Geldstrafe und 6 Monate Haft auf Bewährung. Infolge dieser Strafe wurde der Lehrer aus dem Schuldienst entlassen, obwohl bei Beamten in der Regel erst eine Mindeststrafe von 12 Monaten zur Entlassung führt. Hier war der Fall aber so schwerwiegend, dass die Schulbehörden die angemessene Konsequenz zogen. Danach war der Geschasste m.W. nur noch - als Journalist tätig.
Manch einer in Tübingen hat – bis heute - mehr mir als dem Täter diese Geschichte übelgenommen. So weigerte sich der Lehrer A., ein von mir an ihn geliefertes Buch zu bezahlen, mit der Begründung, dass ich im Fall seines Kollegen zu weit gegangen sei. Der Baum der Aufklärung hat ja -- besonders an seinem Tübinger Ast -- manch kurioses Früchtchen hervorgebracht, aber eine derartige Aufrechnung von Geldschuld gegen angeblich mangelnde Zurückhaltung setzt gewiss ein ganz speziell entwickeltes Rechts- und Selbstverständnis voraus... Zudem hätte ich meine Anzeige gar nicht mehr zurückziehen können, denn ab einem gewissen Umfang der Straftat verfolgt der Staat das Delikt selbst. Abgesehen davon tut mir der Täter auch heute noch nicht leid, denn hätte ich ihn nicht erwischt, wären so große Verluste für mich vielleicht ruinös geworden: bereits im ersten halben Jahr meiner Ladentätigkeit entwendete der Lehrer Bücher im Wert von 3 000 DM.
Und dann war dann noch dieser Kollege NN aus dem Antiquariat X, mit dem der diebische Lehrer seit Jahrzehnten verkehrte. Bei der Hausuchung hatte ich unter anderem ein Buch entdeckt, das der Kollege dem Dieb persönlich gewidmet hatte. Dies hatte den Täter aber nicht gehindert, für über 20 000 DM allein aus diesem Laden zu stehlen. Obwohl er so das ihm entgegengebrachte Vertrauen in meinen Augen schändlich missbraucht hatte, sprach mich der Kollege einmal tadelnd sinngemäß so an, er hätte mich für intelligenter gehalten. Schließlich sei der Lehrer ja wohl krank (also doch?!).
Der Tadler war nicht der Inhaber des Antiquariats, sondern dessen Angestellter. Doch auch der Inhaber dieses Antiquariats selbst enttäuschte mich. Da ich für ihn die Kastanien aus dem Feuer geholt hatte -- und was wäre mir nicht alles passiert, wenn mein Verdacht sich als Irrtum herausgestellt hätte? -- ließ ich durchblicken, dass ich eine Belohnung für angemessen hielte. Ich bekam ein Büchlein für etwa 10 DM und das Angebot, mir einige Kataloge um 1900 herauszusuchen. Da diese völlig veraltete Preise enthielten, lehnte ich diesen Posten ab. Als jedoch Jahre später ein Kunde nach so etwas suchte, rief ich nochmal an und wollte die Kataloge jetzt haben. Da hieß es, dass sie mich nun je 10 Mark kosten würden, da man sie inzwischen in den eigenen Katalog aufgenommen hatte...
Da der Lehrer auch 40% seiner lebenslangen Pension verlor, hielt ich ihn eigentlich für kuriert, was Klauen betrifft. Doch ein Kollege erwischte ihn Jahre später erneut bei mehreren Diebstählen, was er aber leider nicht zur Anzeige brachte.
Einen weiteren Kollegen fragte der Verurteilte: „Weißt du, was mir passiert ist?“ Der Kollege behauptet, geantwortet zu haben „Das ist dir nicht ‚passiert’, das hast du dir selbst eingebrockt:“
Ich selbst bekam noch Anwaltspost, in der mich der Lehrer aufforderte, seinen Namen „Helmut E.“ in dem BILD-Artikel, der in meinem Laden aushing, zu tilgen.
Jahre später bekam ich aus des Lehrers Bibliothek ausgerechnet den HAMLET herein, in dem es um Rache geht. Da die Adresse seiner Mutter drin stand, erwog ich , sie anzurufen und zu erfragen, wie er seinen Abgang aus dem Schuldienst begründet habe. Ich bin mir sicher, er hat selbst seiner Muter etwas vorgelogen (Krankheit o.a.). Aus humanitären Gründen unterließ ich es aber, die alte Mutter da hineinzuziehen.
Der letzte Akt des Dramas war der Tod des Lehrers, in zahlreichen Anzeigen von Journalisten betrauert.
das schwäb. tagblatt, für das er tätig war, hat in seinem nachruf mit keinem wort die problematik seiner sammelleidenschaft erwähnt. als ich den verfasser dewswegen zur rede stellte, sagte er nur: "über tote soll man nichts schlechtes sagen". man könte auch mutmaßen: 1 krähe hackt der anderen kein auge aus.
Auf seinen Nachlass habe ich übrigens nie spekuliert, denn mir war klar, dass ich da keinen Stich machen würde.
Aber auch in Facebook kann ich mindestens 2 Personen benennen, die wegen dieser Geschichte von vor 30 Jahren nicht mit mir befreundet sein wollen.
Die wirtschaftliche Konsequenz solcher Taten: Die gestohlenen Bücher halte ich seitdem in Vitrinen, mit der Folge, dass ich daraus in Jahrzehnten nur einen Bruchteil verkauft habe. Da lobe ich mir meinen Ebayshop, aus dem noch nie was geklaut wurde.
Meine Verbitterung über kriminelle Kunden wird mir als miese Laune übelgenommen und das daraus resultierende Misstrauen sowieso.

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