Thomas Leon Heck

ich danke frau dr. anke laufer aus mähringen für die genehmigung des abdrucks ihres untenstehenden textes von 2006 über mein inzw. SO nicht mehr existierendes tübinger antiquariat in diesem blog.

Im tiefen Grund der Bücher Zahlreiche Zettel und Anschläge pflastern die Fassade des Eckhauses in der Tübinger Hafengasse. Bei Heck gibt es Bücher, auch Drucke und Gemälde. Füllfederhalter und Briefe vom einen oder anderen toten Dichter. Abgesehen davon russische Ikonen, das Siegel eines römischen Kaisers, 800 Flaschen alten Weines, zwei Dutzend Taschenuhren, einen runden Esstisch aus Mahagoni, englisch, um 1880, das passende massivsilberne Teegeschirr, einen Teil eines ägyptischen Sarkophags, ein Gebetbuch in Ringform, einen russischen Samowar, altperuanische Keramiken und eine Krawatte aus Zuchtperlen. Drinnen irrt der Blick im Dämmerlicht zunächst verloren über die Vielzahl von Regalen und Vitrinen mit wurmstichigem Rahmen, in denen Bücher aus allen Epochen, in allen Größen und Formen warten: Ehrwürdige, dicke Tanten mit Lederrücken, schmale Elfchen mit Goldschnitt und zerfranste Straßenköter im Taschenbuchformat. Wenn man genau hinhört, kann man schon jetzt ihre Stimmen hören: lyrisches Gewisper, aufdringliches Geplapper, gepolterte Propaganda, gemessene Vorträge. Es riecht nach Staub und altem Papier. An Balken, Leisten und Regalbrettern sind vergilbte Zettelchen angenagelt, die vage auf ein komplexes Ordnungssystem hindeuten, etwas, was wohl allein Heck eine Übersicht zu verschaffen vermag. Auf mich wirken sie wie Fußnoten, an den Seitenrand des Ladens gekritzelte Formeln, Bannsprüche in verlaufener Tinte. Hinter einer niedrigen Vitrine sitzt sehr aufrecht Thomas Leon Heck, reckt den Hals aus dem Kragen seines Hemdes und hält die Hände im Schoß gefaltet. Heck ist von einer großgewachsenen, blonden Magerkeit. Unter der hohen Stirn und dicht über den Augen büscheln Brauen, die von hellen Stellen durchsetzt sind. Sie setzen Glanzlichter, die nicht in, sondern über seinem Blick liegen und irritierend auf das Gegenüber wirken. Einst der jüngste Auktionator Deutschlands ist er heute zu einer der buntscheckigsten Persönlichkeiten Tübingens geworden: Verleger, Antiquar, Antiquitätenhändler, Versteigerer, Sachverständiger und begnadete Spürnase in Sachen Buch und Kunst. Nach Sichtung seiner Homepage frage ich mich: Wo hört der echte Heck auf und wo beginnt die Selbsterfindung? Und was tut Heck eigentlich, wenn er in seinem Laden ganz allein ist? Wenn die Kunden in den Kellern verschwinden? Zwirbelt er ein wenig an seinen Augenbrauen? Betrachtet er sich in einem halbblinden Handspiegel, den er unter dem Gerümpel hervorzieht? Nimmt er einen alten Siegelring aus der Vitrine, behaucht und poliert ihn und steckt ihn sich dann an, um die Wirkung mit ausgestrecktem Arm zu beurteilen? Wie soll ich das wissen? Ich gehöre nicht zu den Leuten, die mit Heck lange Gespräche führen. Für gewöhnlich wechsle ich ein paar magere Worte mit ihm, um dann vor der niedrigen Kammer mit den Kinderbüchern (in der Erwachsene sich nur gebückt bewegen können) eine scharfe Kehrtwende zu vollziehen und die Treppe hinunter in den Gewölben zu verschwinden. Wahrscheinlich, so denke ich dann, liest er einfach nur, während er allein ist, liest und liest und frisst sich so langsam und beharrlich durch die eigenen Bestände – durch ein Antiquariat, das mit seinen Kammern, Windungen, Gängen und seiner unsicheren Ordnung dem menschlichen Gehirn gleicht. Auf dem ersten Treppenabsatz verzweigt sich der Weg: rechts ein Regal mit noch unsortierten Neuzugängen, geradeaus drohen die schwergewichtigen Enzyklopädien. Links gelangt man ins Labyrinth der Kunstgeschichte, der Griechen und Römer und der Klassiker. Dies ist die Zwischenwelt. Es ist schon dämmriger und feuchter als oben, aber noch dringt schales Licht durch die Fenster. Hinabsteigend wird der Modergeruch intensiver. Merkwürdiges geschieht. Wie konnte ich zum Beispiel die steinerne Treppe einfach übersehen, die hier inmitten des Gewölbes steil nach oben führt und an einer zugemauerten Tür endet? Plötzlich war sie da, beim zehnten oder zwölften Besuch und mit ihr die Versammlung von Figurinen und Büsten aus Bronze, Marmor und Porzellan, die sich auf den Stufen zusammengefunden hat, überragt von einer fahl glänzenden, überlebensgroßen Schleiereule aus Steingut, die von der höchsten Treppenstufe auf mich herunterstarrt. Hier unten begegne ich nur selten einem anderen menschlichen Wesen. Hecks Hilfskräfte sind manchmal da, diese Jungen mit den schmalen Gesichtern, den Staubflocken im Haar und der ungesunden Gesichtsfarbe der Kellerbewohner. Sie sitzen wie Spinnen in einer der überfüllten Kellernischen und schaben die Schimmelpilze von den Buchrücken. Oder sie laufen mit Bücherstapeln hin und her und räumen sie von einem Regal ins andere, auf der Suche nach irgendeiner Ordnung, die Heck ihnen vorgibt. Aber meistens ist man hier unten allein. Nässe tropft von der Decke. Heck hat notdürftig Plastikplanen gespannt und das Wasser rinnt in den Faltenwurf, läuft darin entlang, kippt über den Rand und tropft hinter den Regalen an den Wänden herunter, hinter Wissenschaft, Musiknoten, Reiseliteratur und Esoterik. Die Feuchtigkeit tränkt den Boden, steigt durch die Holzfasern der Regale wieder auf und bringt am Ende den Schimmel zum Erblühen, graue, weiße und blassblaue Rosetten auf vergilbtem Papier. Erst hier wird deutlich, wie sehr es für die Bücher eine Frage des Überlebens ist, im Erdgeschoss, nahe bei Heck zu stehen, wo es trocken ist, wo sie gemütlich verstaut auf einen neuen Besitzer warten können. Es ist, als beobachteten sie dich sehnsüchtig mit der Hoffnung auf eine überraschende, glückliche Wendung. Du könntest sie retten. Du bist vielleicht ihre letzte Gelegenheit. Ab und zu ziehe ich einen der dicksten Bände hervor, um einen Blick auf das zu erhaschen, von dem ich annehme, dass es sich hier versteckt. Kellerwesen, fast ausgestorbene Geschöpfe der Tiefe, die mit Saugnäpfen an den amphibischen Zehen in den Nischen kleben und sich träge am Hintern kratzen. Ich stelle sie mir vor, wie sie Stücke aus den Büchern herausbeißen, wie sie sich an abgefallenen Buchstaben, Eselsohren und hier und da einem Stäubchen Goldschnitt nähren. Dann, beim leisesten Geräusch, kurz bevor einer der Hilfskräfte oder ein Kunde die Treppe heruntersteigt, reißen sie erschrocken die Lemurenaugen auf und verschwinden in den Mauerritzen, aufgesogen von der Dunkelheit. Tief unten, im letzten und kleinsten der Keller, dort wo auch Hecks staubige Weinflaschen lagern, sind die Gewölbe über einen Geheimgang mit einem Tunnelsystem verbunden. Dieses Labyrinth reicht bis hoch hinauf ins Tübinger Schloss. Einst flüchteten die Stadtbewohner durch diese Gänge, wenn marodierende Banden oder feindliche Heere über sie hereinbrachen. Ein Fluchtweg also, die Möglichkeit des Entkommens aus der Brutalität oder vielleicht auch der Ödnis der Welt. Ich frage mich plötzlich, ob man sie nicht zwingend braucht, solche von Laufkäfern und Kellerasseln besetzten Orte bei deren Betreten sich einem die Nackenhärchen aufstellen und an denen alles möglich scheint? Aber was soll soll einer tun, der irgendwo in einer Zweizimmerwohnung im fünften Stock eines Wohnblocks haust, zwischen glatten, weißen Wänden, wo es nicht einmal eine Abstellkammer gibt, keinen Unterschlupf für Träume und Ängste? Was soll einer machen, dessen Leben aufgeklärt und voraussehbar ist? Er kommt hierher zu Heck, in das Kaleidoskop Antiquariat, wo Splitter aus Sprache, Gedanken und Bildern sich zu komplizierten Strukturen zusammenfügen und wieder verschieben. Wenn ich hier unten stehe, dann bin ich mir beinahe sicher: Es ist kein Zufall, dass Heck eine große Sammlung der Schriften Emanuel Swedenborgs im Bestand hat. Das besondere Interesse des großen Theologen und Forschers galt dem Jenseitigen und der Welt der Geistwesen; Kant nannte ihn deshalb verächtlich den Geisterseher. Im 19.Jahrhundert trafen sich seine Anhänger, um spiritistische Sitzungen abzuhalten. Ich sehe sie vor mir, wie sie sich an Hecks rundem Esstisch aus Mahagoni versammeln und sich aus Hecks silberner Teekanne ein Tässchen Earl Grey eingeschenken, um sich dann an den Händen zu fassen und den Geist Wielands oder Hölderlins zu beschwören. Wieland ist ohnehin nicht weit. Er hat einst in diesem Haus gewohnt und vielleicht ist er ja auch einmal in die Keller hinab gestiegen. Heck hat ihm oben einen behaglichen Winkel reserviert: Einen Sitzplatz vor einem sorgsam polierten Sekretär, darauf ein aufgeschlagenes Buch und ein Füllfederhalter. Es sind Menschen wie Thomas Leon Heck, die ihre Keller mit Wundern und Fülle verstopfen und dadurch das Gerümpel aus Zeit und Worten lebendig werden lassen, so dass du sie sehen kannst, all die Schreiberlinge, all die Schwätzer, all die schwermütigen Grübler und schwelgerischen Dichter, wie sie in den Ecken hocken und nach dir greifen.

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